Biodiversitäter Mensch - Marcel Züger "Mensch Wolf"

Der Text von Marcel Züger enthält viele zutreffende Beobachtungen zur historischen Kulturlandschaftsnutzung im Alpenraum, verwebt diese aber stellenweise mit problematischen oder irreführenden Schlussfolgerungen. Die Darstellung romantisiert teils die vorindustrielle Landwirtschaft und unterstellt pauschal, dass menschliche Nutzung im Alpenraum stets zur Förderung der Biodiversität beigetragen habe. Diese Narrative widersprechen teils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der Ökologie, Klimawissenschaft und Naturschutzbiologie.

Im Folgenden erfolgt eine strukturierte Analyse, Widerlegung und Kontextualisierung zentraler Aussagen, ergänzt mit wissenschaftlichen Quellen:

1. These von Marcel Züger: Menschliche Nutzung hat Biodiversität geschaffen und stets gefördert

Marcel Züger: „Die Artenvielfalt in den Alpen überlebte all diese Klimaschwankungen.“ „Zuoberst auf der Prioritätenliste der Naturschützer stehen oft die Relikte der ehemaligen Übernutzung.“

Widerlegung:

Diese Aussage vermischt zwei Ebenen:

  • Die Existenz einer natürlichen alpinen Artenvielfalt infolge nacheiszeitlicher Einwanderung kälteliebender Arten.

  • Die durch menschliche Nutzung geschaffene sekundäre Biodiversität (z. B. magere Wiesen).

Zwar ist es korrekt, dass bestimmte Kulturlandschaftsformen eine hohe Biodiversität fördern (insbesondere extensiv genutzte Mähwiesen). Doch bedeutet dies nicht, dass menschliche Nutzung per se biodiversitätsfördernd ist – im Gegenteil: Viele Nutzungsformen wie Düngung, Entwässerung, Aufforstung mit Fichtenmonokulturen oder Tourismusinfrastruktur haben Biodiversität massiv reduziert.

Wissenschaftliche Quellen:

  • Veen, P. et al. (2009): Grasslands in Europe of High Nature Value – belegt, dass nur extensiv bewirtschaftete Grünländer hohe Biodiversität aufweisen.

  • Ellenberg, H. (1988): Vegetation Mitteleuropas mit den Alpen – beschreibt, wie viele Arten der Magerwiesen durch Intensivierung stark bedroht sind.

  • IPBES (2019): Global Assessment Report on Biodiversity and Ecosystem Services – identifiziert Landnutzungswandel als Hauptursache für den Rückgang globaler Biodiversität.

2. These von Marcel Züger: Klimaschwankungen waren historisch stärker als heute – keine Bedrohung für alpine Biodiversität

Marcel Züger: „In den letzten 10 000 Jahren gab es erwiesenermassen mehrfach wärmere Zeiten als heute.“

Widerlegung:

Die Aussage ist wissenschaftlich unzutreffend. Die heutige Erwärmung ist rascher und umfassender als frühere natürliche Schwankungen. Die sogenannte Römische Warmzeit war regional begrenzt und nicht vergleichbar mit der globalen Erwärmung des Anthropozäns.

Zudem ist der jetzige Klimawandel ein kombinierter Stressfaktor (Temperaturanstieg, veränderte Niederschläge, Gletscherschmelze, invasive Arten) und überfordert die Anpassungsfähigkeit vieler Hochgebirgsarten, die keine Rückzugsräume mehr finden.

Wissenschaftliche Quellen:

  • IPCC (2021): Sixth Assessment Report – bestätigt, dass die gegenwärtige Erwärmung die stärkste seit mindestens 125.000 Jahren ist.

  • Pauli, H. et al. (2012): Recent Plant Diversity Changes on Europe’s Mountain Summits (Science) – zeigt Rückgang kälteliebender Arten am Berggipfel infolge von Klimawandel.

3. These von Marcel Züger: Frühere Landwirtschaft war nachhaltig, effizient und artenschützend

Marcel Züger: „Alles wurde genutzt – es gab keinen Abfall.“ „Was man heute Permakultur nennt, war früher Alltag.“

Widerlegung:

Diese Darstellung ist idealisierend. Die vorindustrielle Landwirtschaft war häufig durch:

  • hohe Arbeitsbelastung (wie der Text auch selbst beschreibt),

  • niedrige Produktivität,

  • starke Umweltbeeinträchtigungen (z. B. Überweidung, Bodenerosion, Entwaldung) gekennzeichnet.

Das Konzept der „permanenten Nutzung“ entspricht nicht den heutigen Zielen regenerativer Landwirtschaft, die gezielt auf Bodenerhalt, Artenvielfalt und Klimaresilienz hin optimiert ist. Vielmehr war die frühere Nutzung eine Überlebensstrategie mit häufig negativer Wirkung auf Ökosysteme.

Wissenschaftliche Quellen:

  • Netting, R. McC. (1993): Smallholders, Householders – beschreibt differenziert Subsistenzlandwirtschaft und deren ökologische Grenzen.

  • Bätzing, W. (2015): Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft – diskutiert die Umweltfolgen früherer Alpwirtschaft.

4. These von Marcel Züger: Naturschutz vernichtet Bodenfruchtbarkeit absichtlich

Marcel Züger: „Zu Naturschutzzwecken wird manchmal fruchtbarer Humus abgetragen …

Widerlegung:

Diese Maßnahme (sog. „Oberbodenabtrag“) wird gezielt und begrenzt eingesetzt, um stark gedüngte Böden in Naturschutzgebieten zu entnähren – nicht um Fruchtbarkeit generell zu „vernichten“. Ziel ist die Wiederherstellung standorttypischer Lebensräume, z. B. für Orchideenwiesen oder Magerrasenarten.

Dies ist ein wissenschaftlich anerkanntes Instrument des Arten- und Biotopschutzes, nicht etwa ein ideologischer Selbstzweck.

Wissenschaftliche Quellen:

  • Schmid, B. et al. (2002): The biodiversity of European grasslands: A synthesis (Applied Vegetation Science)

  • Bundesamt für Naturschutz (BfN): Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen in FFH-Lebensräumen – beschreibt differenziert Maßnahmen wie Mahdgutübertragung oder Bodenabtrag.

5. These von Marcel Züger: Die „Hochzeit“ der Biodiversität war im 19. Jahrhundert

Marcel Züger: „Die Zeit der höchsten Artenvielfalt in Mitteleuropa wird zur Mitte des 19. Jahrhunderts verortet.“

Widerlegung:

Diese Sichtweise ist umstritten. Die sogenannte „Kulturlandschaftsdiversität“ erreichte zwar einen Höhepunkt in bestimmten Offenlandtypen, doch viele ursprüngliche Waldarten, Feuchtgebietsspezialisten und große Wirbeltiere waren zu dieser Zeit bereits stark zurückgedrängt oder ausgestorben (z. B. Luchs, Bär, Auerhuhn, Elch, Fischotter).

Es handelte sich also um eine Spezialisierung auf eine bestimmte Artengruppe, nicht um ein Maximum an gesamtökologischer Vielfalt.

Wissenschaftliche Quellen:

  • Müller, N. et al. (2010): Long-term ecological research in Europe – zeigt Differenzierung zwischen Artenvielfalt in Kulturlandschaften und ursprünglicher Biodiversität.

  • Dietz, H. et al. (2015): Lebensräume in der Schweiz – Zustand und Entwicklung – beschreibt Biodiversitätsverluste trotz „offener“ Landschaften.

Fazit:

Der Text bietet wertvolle historische Details, leidet jedoch unter:

  • Romantisierung historischer Zustände,

  • Einseitiger Betonung menschlicher Nutzung als Biodiversitätsfaktor,

  • Falscher Darstellung moderner ökologischer Konzepte wie Klimawandel, Permakultur oder Naturschutz.

Ein differenzierter Blick zeigt: Menschliche Nutzung kann Biodiversität fördern – wenn sie gezielt, extensiv und angepasst erfolgt. Doch nicht jede Form der Nutzung ist erhaltenswert. Naturschutz muss ökologische Zielsysteme auf Basis wissenschaftlicher Evidenz verfolgen, nicht nostalgische Ideale bedienen.