Der vorliegende Text von Marcel Züger (Biologe) stellt eine sehr kritische und zum Teil polemische Betrachtung der Rolle des Wolfs im Ökosystem Yellowstone dar – mit dem Ziel, die weit verbreitete Darstellung der trophischen Kaskade als übertrieben oder irreführend darzustellen. Dabei wird versucht, die positive ökologische Wirkung von Wölfen zu relativieren. Eine solche kritische Haltung ist in der Wissenschaft grundsätzlich willkommen – allerdings nur dann, wenn sie sachlich bleibt, korrekt zitiert und nicht selbst irreführende Argumentationen verwendet. Im Folgenden werden zentrale Aussagen des Textes einer faktischen und wissenschaftlich fundierten Analyse unterzogen:
Behauptung im Text von Marcel Züger:
Die positiven Veränderungen im Yellowstone seien nicht primär auf die Rückkehr der Wölfe zurückzuführen, sondern auf andere Faktoren wie Jagdregulierung, Feuer, Hochwasser, Biber und Bären.
Faktische Analyse:
➤ Tatsächlich ist die trophische Kaskade im Yellowstone wissenschaftlich gut dokumentiert – mit klarer Kausalität.
Die Rückkehr der Wölfe führte zu Verhaltensänderungen bei Wapitis, insbesondere in Flussnähe. Diese sogenannten landscape of fear-Effekte sorgten für eine Regeneration von Pappeln, Weiden und anderen Pflanzenarten.
Ripple & Beschta (2012): zeigten, dass nicht nur der Populationsrückgang, sondern auch das veränderte Verhalten der Wapitis zur Erholung der Vegetation beitrug.
📚 Quelle: Ripple, W.J., Beschta, R.L. (2012). "Trophic cascades in Yellowstone: The first 15 years after wolf reintroduction." Biological Conservation, 145(1), 205-213. https://doi.org/10.1016/j.biocon.2011.11.005
➤ Die Argumentation im Text vermischt Kausalität und Korrelation selektiv.
Dass auch andere Faktoren (z. B. Bären, Biber, Feuer) beteiligt waren, ist unbestritten, doch sie schließen die Rolle der Wölfe keineswegs aus, sondern verstärken teils sogar deren Wirkung.
In der Ökologie ist Multifaktorialität die Regel – komplexe Systeme haben viele Einflussgrößen. Die Tatsache, dass mehrere Faktoren beteiligt sind, widerspricht nicht der zentralen Rolle eines Auslösers.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
Die Wiederansiedlung der Biber erfolgte vor der Rückkehr der Wölfe, also kann es keinen Zusammenhang geben.
Faktische Analyse:
Die Biber wurden schon vor 1995 im Park ausgewildert, allerdings mit sehr geringem Erfolg.
Erst nach der Erholung der Ufervegetation, die mit der Rückkehr der Wölfe zusammenfiel, konnten sich Biberpopulationen dauerhaft etablieren.
📚 Quelle: Smith, D.W., et al. (2003). "Yellowstone after wolves." Bioscience, 53(4), 330–340.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
Feuer und Hochwasser schufen ideale Bedingungen für die Pappeln, nicht die Wölfe.
Faktische Analyse:
Die Brände und das Hochwasser schufen in der Tat günstige Bedingungen für Pionierarten, doch ohne Reduktion des Wildverbisses durch Wölfe konnten sich Pappeln dennoch nicht etablieren.
Studien belegen, dass Flächen ohne Wolfseinfluss trotz Brand kaum Wiederbewaldung zeigten, da der Verbiss durch Wapitis zu stark war.
📚 Quelle: Beschta, R.L., Ripple, W.J. (2009). "Large predators and trophic cascades in terrestrial ecosystems of the western United States." Biological Conservation, 142(11), 2401-2414.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
In der Schweiz gibt es ähnlich viele Wölfe und Hirsche, aber keine trophische Kaskade.
Faktische Analyse:
Der Vergleich ist ökologisch unzulässig:
In der Schweiz gibt es dichte menschliche Besiedelung, starke Jagdregime, intensive Landnutzung und fehlende Wildniszonen.
Es fehlt an ungestörten, strukturell vielfältigen Lebensräumen wie in Yellowstone.
Trophische Kaskaden erfordern nicht nur Wölfe, sondern auch eine ausreichende Dauer und räumliche Freiheit, damit sich neue Gleichgewichte etablieren können.
📚 Quelle: Chapron, G. et al. (2014). "Recovery of large carnivores in Europe’s modern human-dominated landscapes." Science, 346(6216), 1517-1519.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
Es gibt kein generelles Insektensterben – Rückgänge seien nur auf schlechte Pflege der Schutzgebiete zurückzuführen.
Faktische Analyse:
Diese Aussage ist irreführend und selektiv:
Meta-Analysen wie Hallmann et al. (2017) zeigen einen Rückgang der Biomasse flugaktiver Insekten um über 75 % in 27 Jahren – auch in Schutzgebieten.
📚 Quelle: Hallmann, C.A. et al. (2017). "More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas." PLOS ONE, 12(10): e0185809. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0185809
Dass Schutzgebiete nicht perfekt sind, stimmt. Das relativiert aber nicht die dramatischen Befunde, sondern zeigt zusätzlichen Handlungsbedarf auf.
Der Text stellt wissenschaftlich belegte Zusammenhänge als "Glauben" oder "Mythen" dar, ohne die Komplexität ökologischer Prozesse adäquat abzubilden. Viele Argumente beruhen auf Scheinalternativen (z. B. entweder Biber oder Wolf) und vermischen Korrelation und Kausalität – gerade während sie anderen genau das vorwerfen.
Während es richtig ist, pauschale Erzählungen zu hinterfragen, ist der Versuch, den Wolf als ökologische Schlüsselfigur zu diskreditieren, wissenschaftlich nicht haltbar.