Der Artikel „Kultivierte Natur – Nature is our culture“ von Marcel Züger (Biologe) beschreibt eindrücklich die lange und intensive Nutzungsgeschichte des Alpenraums, insbesondere im Vergleich zur angeblich „ursprünglichen“ Wildnis Nordamerikas. Er kommt zu dem Schluss, dass es in den Alpen keine unberührte Natur mehr gebe und dass die Natur dort durch Jahrtausende menschlicher Nutzung zu einer Kulturlandschaft geworden sei – im Gegensatz zu einer vermeintlich „natürlichen“ Wildnis in Nordamerika.
Diese Argumentation lässt sich jedoch wissenschaftlich in mehreren Punkten widerlegen oder zumindest relativieren, wenn man neuere Erkenntnisse aus Ökologie, Umweltgeschichte, Anthropologie und Naturschutzforschung heranzieht. Im Folgenden findest du eine fundierte Analyse und Widerlegung des Artikels anhand von Fakten und wissenschaftlichen Quellen.
❌ These des Artikels von Marcel Züger:
Die Natur in den USA (z. B. Yellowstone) sei weitgehend wild und unberührt, im Gegensatz zur durchkultivierten Natur Europas.
✅ Faktencheck:
Die Vorstellung, Nordamerika sei vor der Ankunft europäischer Siedler eine unberührte Wildnis gewesen, ist ein kolonialer Mythos, der heute vielfach wissenschaftlich widerlegt ist.
Wissenschaftliche Erkenntnisse:
Indigene Völker Nordamerikas betrieben seit Jahrtausenden gezielte Landschaftsveränderungen, u. a. durch systematische Feuerökologie, Bewässerung, Jagdmanagement und Pflanzungen (vgl. Anderson 2005; Kimmerer 2013).
Der Yellowstone-Nationalpark etwa wurde über Jahrtausende von indigenen Gruppen wie den Shoshone und Crow saisonal genutzt, einschließlich kontrollierter Brände, Tiermanagement und spiritueller Praktiken.
🔬 „The ‘pristine wilderness’ idea is a myth that erased thousands of years of active land management by Native Americans.“ – William M. Denevan, 1992: "The Pristine Myth"
📚 Quellen:
Denevan, W. M. (1992). The Pristine Myth: The Landscape of the Americas in 1492. Annals of the Association of American Geographers.
Anderson, M. K. (2005). Tending the Wild: Native American Knowledge and the Management of California's Natural Resources. University of California Press.
Kimmerer, R. W. (2013). Braiding Sweetgrass.
❌ These des Artikels von Marcel Züger:
Die Alpen sind vollständig zur Kulturlandschaft geworden; Natur existiert dort nicht mehr.
✅ Faktencheck:
Zwar ist der Alpenraum intensiv genutzt worden, dennoch existieren dort heute hochwertige natürliche Lebensräume mit hoher Biodiversität – auch dank extensiver historischer Nutzung.
Wissenschaftliche Erkenntnisse:
Die Alpen sind ein Hotspot der Biodiversität, mit vielen endemischen Arten (z. B. Alpensteinbock, Edelweiß, Alpenapollo).
Viele traditionelle Nutzungsformen (wie Sömmerung, Heuwiesenbewässerung) fördern die Artenvielfalt. Der Rückgang dieser Praktiken ist heute ein größeres Problem für die Biodiversität als deren Existenz.
Viele Gebiete im Alpenraum zeigen heute hohe Naturnähe, auch wenn sie historisch genutzt wurden. Diese Flächen sind Ziel intensiver Schutzbemühungen (z. B. Natura 2000, UNESCO-Biosphärenreservate, Schweizerischer Nationalpark).
🌿 „Extensively managed grasslands in the Alps belong to the most species-rich habitats in Europe.“ – European Environment Agency (EEA)
📚 Quellen:
Körner, C., et al. (2011). Alpine Plant Life. Springer.
EEA (2010). Europe's ecological backbone: Recognising the true value of our mountains.
Strebel, N. et al. (2020). Biodiversity and land-use in the Alps. PLOS ONE.
❌ These des Artikels von Marcel Züger:
Es gibt in den Alpen keinen Urwald mehr; damit sei „Natur“ dort bedeutungslos geworden.
✅ Faktencheck:
Es ist richtig, dass Primärwald in Europa selten ist, doch sind die verbleibenden Reste extrem wertvoll und unter striktem Schutz. Zudem existieren auch sekundär naturnahe Wälder, die ökologisch sehr bedeutend sind.
Wissenschaftliche Erkenntnisse:
Europa verfügt über mehr als 1,4 Millionen Hektar alter, weitgehend naturnaher Wälder, die oft >150 Jahre alt sind.
In den Alpen gibt es neben winzigen Primärwaldresten auch große Schutzgebiete mit natürlicher Sukzession, z. B. im Schweizerischen Nationalpark (seit 1914 ungenutzt).
Selbst ehemalige Kulturlandschaften können sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten wieder in naturnahe Systeme zurückentwickeln, wenn sie geschützt werden.
🧬 „Old-growth forest functions can be restored in formerly used forests, especially in mountainous terrain.“ – Burrascano et al., 2013
📚 Quellen:
Sabatini, F. M. et al. (2020). Where are Europe's last primary forests?. Diversity and Distributions.
Burrascano, S. et al. (2013). Old-growth characteristics in European forests. Forest Ecology and Management.
❌ These des Artikels von Marcel Züger:
Natur ist in Europa Kultur; „wilde“ Natur gibt es dort nicht mehr.
✅ Faktencheck:
Die moderne Umweltethik und ökologische Forschung erkennen an, dass Kultur und Natur keine Gegensätze, sondern verflochtene Systeme sind.
Wissenschaftliche Erkenntnisse:
Das Konzept der „Kulturlandschaft“ wird heute nicht als Gegensatz zur Natur, sondern als Teil ökologischer Vielfalt betrachtet.
Selbst „naturnahe“ Lebensräume in Mitteleuropa (wie Magerrasen, Streuwiesen, Feuchtgebiete) sind oft halbnatürlich, aber trotzdem extrem artenreich.
Der Schutz dieser Kulturlandschaften ist heute integraler Bestandteil moderner Naturschutzstrategien (z. B. IUCN-Kategorie V: Protected Landscape).
🧠 „The dichotomy of nature versus culture is outdated – landscapes are co-produced by humans and ecological processes.“ – UNESCO, 2019: World Heritage Cultural Landscapes
📚 Quellen:
UNESCO (2019). World Heritage Cultural Landscapes.
Plieninger, T. et al. (2015). Integrating landscape stewardship into biodiversity conservation. Ecology & Society.
Der Artikel vermischt korrekt dargestellte historische Tatsachen mit verkürzten Schlussfolgerungen und vernachlässigt dabei zentrale wissenschaftliche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte. Die Gegenüberstellung „kultivierte Alpen vs. wilde USA“ ist nicht haltbar:
Artikelbehauptung | Wissenschaftlich belegte Gegenthese |
USA = Wildnis, Alpen = Kulturlandschaft | Beide Regionen sind von Menschen geprägt – seit Jahrtausenden |
In den Alpen gibt es keine Natur mehr | Hochwertige, artenreiche Lebensräume existieren – auch ohne „Urwald“ |
Urwälder fehlen = kein Naturschutzwert | Sekundärwälder & Sukzession haben ebenfalls hohe ökologische Bedeutung |
Kultur und Natur sind Gegensätze | Kultur- und Naturräume sind oft untrennbar miteinander verwoben |